Mehr als neunhundert Seiten über Jacques Offenbach! ein Kompendium und eine Fundgrube! Verfasst hat den Wälzer – und das ist im Fall Offenbachs bezeichnend – kein Musikwissenschaftler, sondern ein begeisterter Amateur: Ralph Fischer, der 2022 im alter von nur fünfzig Jahren verstarb, ehe er letzte Hand an sein buch legen konnte, war „promovierter Pädagoge, Buchhändler und Privatgelehrter“ (so liest man auf dem Buchdeckel). Als Freundschaftsdienst hat Peter Hawig, der beste Offenbach-Kenner im deutschen Sprachraum – auch er, als Gymnasiallehrer im Ruhestand, ein Amateur –, das Buch herausgegeben („Zwischen den Paradiesen“. ein Wegweiser zu Jacques Offenbach: Herkunft und leben, Werk und Wirkung. aus dem Nachlass hrsg. von Peter Hawig. Verlag für Kultur und Wissenschaft, Bonn 2023. 926 s., geb., 68,– €).
Im kurzen Vorwort heißt es, Offenbach – in Köln geboren, in Paris berühmt geworden, aber auch in Wien, Bad Ems und anderswo erfolgreich – sei „schon aufgrund seiner Biographie Internationalist“ gewesen. Die europäische Dimension von Offenbachs Werk und Wirken steht seit einigen Jahren im Fokus der Forschung; die Akten eines Kolloquiums, das im Jubiläumsjahr 2019 in Köln und Paris stattfand, tragen nicht ohne Grund den programmatischen Titel: „Offenbach, ein europäischer Musiker“.
In den Präliminarien stellt Fischer die These auf, dass Offenbachs Werk ein Werk des „Dazwischen“ sei, und das meint nicht zuletzt auch zwischen der französischen und deutschen Kultur. Der Mensch wie der Künstler Offenbach saß zwischen den Stühlen – was sich mit dem immer noch verbreiteten Bild des bloßen Unterhalters nicht unbedingt verträgt. Zunächst skizziert Fischer die inzwischen recht gut erforschte Familiengeschichte (Familie und Jugend Offenbachs in Köln).
Der zweite Teil ordnet das Werk in die Geschichte der Gattung Opéra-comique ein, die in Frankreich vom acht- zehnten bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts verhältnismäßig kontinuierlich verlief, gibt einen Überblick über die bemerkenswert differenzierten Gattungsbezeichnungen, die Offenbach seinen Werken gab (die Bezeichnung „Opérette“ verwendete er nur für Einakter), und verfolgt die Entwicklung des Genres weiter bis in die Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts. Erst für die nach dem ersten Weltkrieg entstandene „opérette légère“ setzte sich die Gattungsbezeichnung „opérette“ allgemein durch.
Der dritte Teil ist Offenbachs Kompositionstechnik gewidmet: Melodik, Harmonik und Rhythmik, den Formen der gesangsnummern sowie von Préludes und Ouvertüren und der Orchestration. Die Zusammenarbeit mit seinen Librettisten wird exemplarisch an „la Princesse de trébizonde“ (Briefwechsel mit den Librettisten Nuitter und Tréfeu) verdeutlicht. Fast die Hälfte des Bandes nimmt dann ein „Werkführer“ mit 129 Nummern ein. Je nach der Bedeutung, die einem Werk beigemessen wird, fallen die Abschnitte unterschiedlich lang aus (einer der längsten ist übrigens „Le Roi Carotte“ gewidmet). Gegebenenfalls werden verschiedene Fassungen jeweils für sich behandelt, etwa von „Orphée aux enfers“ die erste Version von 1858 und die „Opéra-féerie“ von 1874. Einige Kapitel, darunter das über „Hoffmanns Erzählungen“, hat Fischer nicht mehr schreiben können. aber das Buch wird trotzdem auf Jahre hinaus das Referenzwerk zur Offenbach-Forschung sein.
Der Journalist Dieter David Scholz hat ein ganz anderes Offenbach-Buch vorgelegt („Jacques Offenbach“. Ein deutsches Missverständnis. Königshausen & Neumann, Würzburg 2023. 304 s., br., 32,90 €). Das titelgebende „Missverständnis“ besteht für ihn darin, dass die Opéra-Bouffe im deutschen Sprachraum bis heute oft als „Operette“ bezeichnet wird, was zweifellos falsche Assoziationen wecken kann. Allerdings zeigt die Operetten-Renaissance der letzten Jahre sehr deutlich, dass keineswegs alles, was „Operette“ heißt, so minderwertig ist, wie Scholz offenbar voraussetzt. Außerdem scheint in einer Zeit, in der kaum noch jemand die französische Gattungsbezeichnung präsent hat, der Terminus „Opéra-bouffe“ auch nicht ganz unproblematisch: Viele Musikliebhaber denken dabei vermutlich an die italienische Opera buffa, womit dann eine falsche Assoziation durch eine andere, ebenso falsche ersetzt würde.
Über weite Strecken ist das Buch eine Anthologie der deutschsprachigen Offenbach-Literatur von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis heute, wobei sowohl Bewunderer wie Gegner berücksichtigt werden. Nicht alles hätte man erwähnen müssen, wie etwa Grete Wehmeyers verunglücktes Buch zur „Lachkultur bei Jacques Offenbach und Richard Wagner“. Etwas ausführlicher wird dann aus den Schriften von dreizehn frühen „Offenbach-Apologeten“ zitiert: von Heine über Eduard Hanslick und Karl Kraus zu Siegfried Kracauer (und aus Adornos harscher Kritik an Kracauers Offenbach-Buch). Es folgen Kapitel, die die Entwicklung von ersten Korrekturen an deutschen Wahrnehmungen Offenbachs bis zum „neuen Offenbachbild“ nachzeichnen.
Der letzte Teil steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Jubiläumsjahr 2019: zu den Veranstaltungen, zum Stand der Offenbach-Edition Keck und anderem mehr. Eine Auswahl von Kritiken als repräsentativ betrachteter Inszenierungen aus den letzten Jahren kommt hinzu. Einige Widersprüche sind zwar im Text stehen geblieben: so heißt es an einer Stelle, Offenbach hätte Wagner nicht parodiert – und gut vierzig Seiten später weiß es der Autor dann immerhin besser. Albert Gier
Zum Artikel: https://vkwonline.com/Zwischen-den-Paradiesen