Gudrun V. Lang, Michael F. Strohmer (Hg.): Europa der Grundrechte: Beiträge zur Grundrechtecharta der Europäischen Union (Rezension)

Verlag für Kultur und Wissenschaft, Bonn
Buchrezensionen
Gudrun V. Lang, Michael F. Strohmer (Hg.): Europa der Grundrechte: Beiträge zur Grundrechtecharta der Europäischen Union (Rezension) -

Das Sammelwerk öffnet die Augen für die Chancen und Grenzen der Diskussion über eine Wertorientierung der Politik, wie sie in besonderer Weise in der Ausei nandersetrung um die Grundrechtecharta der Europlischen Union zum Ausdruck kommt. In mehrfacher Hinsicht dient das Buch einem interdisziplinären Dialog und verschafft dem theologischen Leser eine Horizont- und Relevanzerweiterung ethischer Reflexion. Die Autoren sind großenteils keine studierten Theologen, sondern Philosophen, Juristen, Mediziner, aktive Politiker, die sich als überzeugte Christen verstehen und ihre christliche Grundhaltung in die für ihren Tätigkeitsbereich spezifische Sichtweise normierend einfließen lassen. Zudem ist das Ruch mit Beiträgen evangelischer und katholischer Provenienz ökumenisch aus gerichtet, was im ethischen Bereich als plausibel erscheint. Das Gewicht der Thematik kommt durch das Geleitwort des Österreichischen Bundespräsidenten Thomas Klestil (S. 14) und eine Ansprache des Papstes Johannes Paul II. (S. 136f) zum Ausdruck. Der Sammelband verfolgt das positive Ziel, Grundwerte und-rechte zu definieren, wobei die kritische Analyse der Grundwertediskussion in der EU zu einer Profilierung des positiven Anliegens beiträgt. Wer ver- stehen will, worauf es einem wertkonservativen Denken ankommt, wo Weichenstellungen in Begrifflichkeiten und Begründungen liegen, dem ist mit diesem Buch gedient.

In einem ersten Teil werden allgemeine Überlegungen angestellt, die den Begriff der Menschenwürde, die Begründung von Werten, den Personbegriff und die Rolle der Kirchen in der pluralistischen Gesellschaft betreffen (S. 17-82). Der Jurist Wolfgang Waldstein beruft sich auf Theodor Heuss, der die geistige Grundlage Europas auf drei Hügeln begründet sah: Akropolis (griechische Philo- sophie), Capitol (römisches Recht), Golgatha (Christentum) (S. 39). Das Grundgesetz gehe von der Existenz unveräußerlicher und universaler Menschenrechte aus (S. 39). Mit zunehmendem Abstand zu den Erfahrungen mit dem Dritten Reich und anderen totalitären Regimen haben sich bezeichnende Verschicbungen und Umdeutungen cingestellt, wie Waldstein aufzeigt. So betonte die UN Deklaration über die Rechte des Kindes von 1959, dass diese vor und nach der Geburt gelten; 1989 wird nur noch von menschlichen Wesen unter dem Alter von 18 Jahren gesprochen (S. 4tf.). Die Interessen einflussreicher Gruppcn, wech selnde und medial becinflusshare Mehrheiten, ein von Gott losgelöster Autono miegedanke treten an die Stelle allgemeingultiger und vorgängiger Nonmen. Werte werden etwa bei E. W. Bückenförde vom aktuellen Konsens und Nutzen her begründet (S. 44). Der Rechtspositivismus betrachtet Normen als Ausdruek eines Willens (S. 43). Da Gott als Prämisse des Denkens abgelehnt wird, wird der wechselnde partikulare Wille des Augenblicks, der Einzelperson oder einer Menschengruppe zur normativen Größe. Dementsprechend wird in der EU Ab treibung als ein positiver Wert verstanden (S. 45), in der Euthanasiefrage Druck auf Richter und Parlamente ausgeübt (S. 45-47) und die Aufhebung des Schutzes Minderjähriger vor sexuellem Missbrauch wegen der Forderung nach cinem A doptionsrecht für Homosexuelle gefordert (S. 46f.). Waldstein sicht in der EU Politik eine totalitäre Ideologic am Werk, die die Freiheit abweichender Gesetz gebungen (z. B. bezüglich Abtreibung und Homo-Ehe) und Meinungen (z. B. strafrechtliche Verfolgung der Auffassung, dass homosexuelle Neigungen heilbar seien) in crheblichem Maße cinschränkt (S. 45. 48). Waldstein möchte dic De mokratie weniger an einer populistischen Entsprechung gegenüber Mehrheits meinungen als an der Begrenzung und Kritik von Macht durch vorgegebene und rational einsichtige Normen festmachen. So kommt er unter ausführlichem Rekurs auf das römische Recht zur Forderung nach einer Rückbesinnung auf die naturrechtlichen Grundlagen der Rechtsordnung (S. 44. 50-59). Rainer Beckmann, Jurist und Mitglied der Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin" des Bundestages, weist auf die Problematik der Unterscheidung zwischen Menschen und Personen in der Bioethik-Diskussion und in der deutschen Fassung der EU-Grundrechtecharta hin. Peter Singer etwa definiert den Personbegriff von Selbstbewusstsein, Selbstkontrolle, Sinn für Vergangenheit und Zukunft sowie Kommunikationsfähigkeit her (S. 62). Ungeborene, neugeborene, schwerkranke Menschen wären dann keine Personen (ebd) Beckmann entlarvt den Präferenzutilitarismus (eine Handlung ist falsch, wenn sie geäußerten Präferenzen eines Wesens entgegensteht, ohne dass dies durch entgegengesetzte Präferenzen ausgeglichen würde) als eine ,Interessenethik: Diejenigen sind im Vorteil, die ihre Interessen artikulieren und durchsetzen können (S. 63). Will man eine Partikularisierung der Ethik und eine Diskriminierung bestimmter Menschengruppen verhindern, so muss nach Beckmann Person- und Menschsein gleichgesetzt werden. Die Potenzialität bezieht sich nicht auf das Personsein, sondern das Personverhalten (z. B. Vollnarkose); die Entwicklungsphasen betreffen nicht die Existenzbedingungen, sondern die verschiedenen Existenzweisen einer identisch bleibenden Person (S. 64f.).

In einem Abschnitt zur „,Kontroverse um die Grundrechte" (S. 83-134) berich ten Praktiker und journalistische Beobachter von ihren Erfahrungen mit der For mulierung der Grundrechtecharta. So weist zum Beispiel der CSU Europaabgeordnete Ingo Friedrich auf die Erfolge der Christdemokraten in der Durchsetzung einer Bezugnahme auf das geistig-religiöse Erbe Europas, der ex pliziten Erwähnung der Religionsfreiheit, des geistigen Eigentums, der Achtung des Privat- und Familienlebens sowie der unternehmerischen Freiheit hin (S. 102.104). Als Erfolg wird die Verhinderung der Umsetzung einiger Anliegen der Gegenseite verbucht (keine Aufhebung des Vorbehalts nationalen Rechtes, keine explizite Erwähnung cines einklagbaren Rechts auf Abtreibung, Homo Ehe, Arbeit [S. 103]). Nicht durchsetzbar war das Verbot des therapeutischen Klonens und eines expliziten Heimatrechtes (S. 104).

In einem letzten Abschnitt werden ,einzelne Bestimmungen", beispielsweise zum Bercich Euthanasie oder Ehe und Familie, kritisch analysiert (S. 135-164). So macht sich etwa der Philosoph Thomas Sören Hoffmann Sorgen um die Uni versalität und Unantastbarkeit der persönlichen Freiheit, da diese in der EU Grundrechtecharta als Produkt und nicht Richtmaß des Rechts verstanden werde (S. 138f.). Im Vergleich zu nationalen Verfassungen werden einige Probleme verdeutlicht. So fehle bei der EU die Freiheit der Lehre und die Institutionenga rantie der Ehe (S. 139). Wenn - als ein neues Element -- ein explizites Recht älte rer Menschen auf ein würdiges Leben und die Teilnahme am sozialen und kultu rellen Leben erwähnt wird, dann werde Freiheit nicht anerkannt, sondern quasi in einem Gnadenakt zugesprochen, damit aber in ihrer Unteilbarkeit in Frage ge stellt (S. 140).

Nützlich für die Verifikation und weitergehende Reflexion ist der Abdruck der EU-Grundrechtecharta in Auszügen und der Europäischen Menschenrechtskonvention in einem Anhang (S. 166-185).

Christian Hermann 

Quelle: JET 18 (2004), S. 306-308


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