Klassen, John N.: Russlanddeutsche Freikirchen in der Bundesrepublik Deutschland (Rezension)

Verlag für Kultur und Wissenschaft, Bonn
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Klassen, John N.: Russlanddeutsche Freikirchen in der Bundesrepublik Deutschland (Rezension) -

Rezension von Prof. Dr Helge Stadelmann im Jahrbuch für evangelikale Theologie 22 (2008)

Klassen, John N.: Russlanddeutsche Freikirchen in der Bundesrepublik Deutschland. Grundlinien ihrer Geschichte, ihrer Entwicklung und Theologie, Nürnberg: VTR, 2007, 444 Seiten

Endlich liegt mit dem hier anzuzeigenden Werk eine verlässliche Untersuchung zu den russlanddeutschen Freikirchen baptistischer und mennonitischer Prägung vor. Nachdem der Strom der Aussiedler aus dem Osten langsam abebbt (2007 reisten noch 5.792 von ihnen in die BRD ein; 2005 waren es noch 35.500), ist es Zeit Bilanz zu ziehen. Seit den 1950er Jahren sind rund 2,4 Millionen Russlanddeutsche in die alte Heimat umgesiedelt. Einschließlich ihrer Nachkommen leben heute mehr als 4 Mill. Aussiedler aus den ehemaligen Ostblockländern in Deutschland. Etwa die Hälfte von ihnen ist lutherisch; ein Viertel ist katholisch; ein weiteres Viertel gehört verschiedenen evangelisch-freikirchlichen Richtungen an (u.a. methodistisch, pfingstkirchlich, adventistisch). Das größte Segment der freikirchlichen Aussiedler hat einen täuferischen Hintergrund (60,8% Baptisten; 39,2% Mennoniten). Seit 1963 haben sie sich in der BRD angesiedelt; 1972 wurde die erste russlanddeutsche Aussiedlergemeinde in Paderborn gegründet. Inzwischen gibt es 520 täuferische Aussiedlergemeinden mit rund 80.000 getauften Mitgliedern - plus Kindern und Angehörigen insgesamt 285.000 Personen. Einheimischen Gemeinden haben sich rund 8.000 bis 9.000 baptistisch-mennonitische Spätaussiedler angeschlossen. Freikirchliche Aussiedlergemeinden gehören zu den größten Gemeinden in Deutschland mit den bestbesuchten Gottesdiensten. Die russlanddeutschen Gemeinden weisen ein jährliches Wachstum von 3,4% auf, wobei Transferwachstum durch Zuzug eine immer geringere Rolle spielt, während das Bekehrungswachstum (Mitgliedschaft durch Glaubenstaufe) noch stark aus dem Potential des biologischen Gemeindewachstums schöpft, jedoch zunehmend auch das Gewinnen von (vor allem: russlanddeutschen) Gemeindefremden eine wichtige Rolle spielt. Diese und ähnliche Zahlen wissenschaftlich recherchiert zu haben, ist das Verdienst der Forschungsarbeit von John N. Klassen.

Die vorliegende Dissertation des langjährigen Dozenten Dozenten am Bibelseminar Bonn beschäftigt sich also mit diesem größten und stark wachsenden Segment evangelikaler Christen in Deutschland. Die Doktorarbeit wurde unter der Betreuung von Prof. Saayman in langjährigen Forschungen erstellt und 2002 an der Universität von Südafrika eingereicht. Ursprünglich reichte das erhobene Datenmaterial bis 1998; da aber bis zur Veröffentlichung aus persönlichen Gründen weitere vier Jahre vergingen, musste in aufwändigen Nachforschungen eine Datenergänzung bis 2006 vorgenommen werden. Damit liegt nun erstmals verlässliches und umfangreiches Zahlenmaterial zu den baptistisch-mennonitischen russlanddeutschen Gemeinden vor. Der kundige Leser nimmt es angesichts dessen in Kauf, dass es aus dem genannten Grund immer wieder zu Doppelungen von Zahlen für die Zeiträume bis zu 1998 und bis 2006 kommt. Frühere viel zu hohe Schätzungen der Zahl freikirchlicher Russlanddeutscher konnte Klassen korrigieren und im Einzelnen die Verbreitung, Gründung und das Wachstum der russlanddeutschen Freikirchen dokumentieren. Die wechselvolle Geschichte der freikirchlichen deutschstämmigen Christen in Russland zeichnet Klassen sorgfältig nach. Es wird dabei u.a. das in der Freikirchengeschichte einzigartige Phänomen des Kolonisationsmennonitentums deutlich, dass die Mennoniten in ihren Siedlungsgebieten so etwas wie freikirchliche `Staatskirchen´ mit ethno-religiöser Prägung gebildet haben. Auch gibt der Autor einen guten Überblick über die verschiedenen Verbände, die sich seit den 1970er Jahren in der BRD gebildet haben und die ganz unterschiedliche Grade von Akkulturation aufweisen, in denen die Mehrheit freikirchlicher Aussiedlergemeinden zusammengeschlossen sind. Zu den einzelnen Verbänden wie der Arbeitsgemeinschaft evangelikaler Gemeinden (AeG), der Dienstgemeinschaft evangelikaler Gemeinden (DeG), den Aussiedlergemeinden im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG), der Arbeitsgemeinschaft zur Unterstützung der Mennonitengemeinden (AGUM), der Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Brüdergemeinden in Deutschland (AMBD), der Bruderschaft der Christengemeinden in Deutschland (BCD), der Bruderschaft der EvangeliumsChristen Baptistengemeinden (BEChB), dem Bund Taufgesinnter Gemeinden (BTG), den Unabhängigen Mennoniten-Brüdergemeinden, dem Verband der Mennoniten-Brüdergemeinden in Bayern (VMBB), der Vereinigung der EvangeliumsChristen Baptistengemeinden (VEChB) sowie den übrigen unabhängigen Aussiedlergemeinden werden Tabellen mit Zahlenmaterial über die langjährige Mitgliederentwicklung der Einzelgemeinden vorgelegt (S. 377ff). Zudem werden zwölf Auswahlgemeinden nach den Methoden qualitativer Sozialforschung untersucht, um zu Erkenntnissen über Hintergründe, Entwicklung und Art des Wachstums zu kommen und Kriterien zu gewinnen, von denen her sich das Gesamtzahlenmaterial interpretieren lässt.

Unter den Stillen im Lande sind die Russlanddeutschen bisher vermutlich die stillsten. Dass es um sie in der evangelikalen Gemeindewachstumsforschung und Konfessionskunde nicht allzu still bleibt und sie eine ihrer Größe und Wachstumsdynamik angemessene Beachtung finden, dazu hat John Klassen einen beachtlichen Beitrag geliefert. Er hat damit ein wichtiges Pendant zu der 2006 erschienen Habilitationsschrift von Christian Eyselein geliefert, die sich der Untersuchung der lutherisch-pietistischen Russlanddeutschen gewidmet hatte (s. die Rez. dazu in JETh 21/2007, S. 425ff). Dem Buch ist weite Verbreitung und eine aufmerksame Leserschaft unter evangelikalen Christen zu wünschen.

                                                                                                            Dr. Helge Stadelmann

Rektor der Freien Theologischen Hochschule, Giessen


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