Das Jahrbuch enthält sechs Aufsätze zur Seelsorge, die zum Ziel haben, die Seel sorge wieder auf die biblischen Grundlagen zurückzuführen.
Der erste Beitrag ,,Dic Geschichts- und Theologie-Vergessenheit der heutigen Seelsorgelehre" (S. 9-34) von J. A. Steiger ist der Nachdruck eines Zeitschrif tenaufsatzes (aus: Kerygma und Dogma, 39/1993, S. 64-87), der sich mit der gegenwärtigen kirchlichen Seelsorge auseinander setzt. Er ist ein leidenschaftlicher Appell, die heutige Seelsorge zu korrigieren und sich neu auf ihre reformatorische Grundlage zu besinnen. Es ist die Zeit gekommen, der Geschichtsvergessenheit und Erblindung vor der eigenen Tradition abzuhelfen und das Quellenstudium endlich wieder in Angriff zu nehmen (S. 13). Ein Aufruf, der nicht nur die kirchlich-theologische Seelsorge betrifft. Die Ausführungen von Steiger können unter vier Aspekten zusammengefasst werden: (1) dic Gemeinde als Seelsorger, (2) die biblische Empathie, (3) der eschatologische Kontext in der Seelsorge und (4) Seelsorge als Lebensberatung. Alle vier Aspekte werden an Hand von Seelsorgeliteratur aus der Zeit der Reformation und Orthodoxie dargestellt.
In einem zweiten Beitrag geht Elke Meyer auf das extra nos und seine Dimen sion in der Seelsorge bei Martin Luther ein (S. 35–65). In bestechender Weise gelingt cs Meyer, die Bedeutung des extra nos in der Theologie Luthers darzu stellen und zu zeigen, welche Auswirkungen es für die Seelsorgepraxis hat. Rechtfertigung wirkt Gewissheit im Glauben, schenkt Freiheit vom Gesetz und gibt Trost in der Anfechtung. Dieses Vertrauen auf Gottes Handeln (Gerechtig keit ist Gabe Gottes und nicht Eigenschaft des Menschen) und Wegsehen von der eigenen Befindlichkeit ist das Proprium der Seelsorge Luthers. Luthers Seelsor ge besteht somit darin, den Menschen von sich selbst und deni Vertrauen auf sei ne eignen Werke wegzuführen und ihm Christus als das Heil ,extra nos' vor Au gen zu führen und ihm so zu einem getrösteten Gewissen zu verhelfen" (S. 60f.). In dieser Erkenntnis liegt auch der unverwechselbare Unterschied zur säkularcn Form der Psychotherapie.
Gerhard Gronauer stellt die Seelsorgepraxis um die Zeit des 17. Jahrhunderts am Beispicl des „Seelen-Hirten von Nicolaus Haas dar (S. 67–78). Die Ausfüh rungen zeigen, wie leicht Rechtgläubigkeit einen moralischen Akzent in der Seelsorge crhalten kann, machen aber auch deutlich, in welch vielfältiger Weise in der damaligen Zeit seelsorgliche und beratende Hilfestellungen den Menschen gegeben wurden, angefangen bei Trübsalen, Krankheiten. Anfechtungen und Schwermut über Trost und Rat im Alltag bis hin zum Vorgehen gegen Kirchen schlaf.- In einem zweiten Artikel stellt Gronauer die Frage nach der ,Rückkehr des Glaubens in der Seelsorge“ (S. 78-110). Es handelt sich im Wesentlichen um einen Überblick der Seelsorgebewegungen von der kerygmatischen Seelsorge (Asmussen, Thurneysen) über die therapeutisch-beratende Scelsorge (Rogers, Scharfenberg, Stollberg) zu verschiedenen neueren Impulsen, die die Seelsorge wicder zur biblischen Grundlage zurückführen wollen (Tacke, Bukowski, Josut tis). Der Leser erhält einen hilfreichen Überblick über die kirchlichen Seelsorge bewegungen der letzten 50 Jahre.
Der Aufsatz von Ron Kubsch: ,Gott hat uns cin,besseres Mittel gegeben", ist ein Plädoyer für eine Re-Bibliorisierung" der Seelsorgelehre (S. 111-135) Kubsch setzt sich mit den weltanschaulichen Hintergründen und der Methoden vielfalt in der Psychologie auseinander. Dabei betont er die polemische Intention seiner Ausführungen. Sein Anliegen ist es, das Wort Gottes wieder zum bestimmenden Faktor in der Seelsorgelehre und -praxis werden zu lassen, ohne dass dabei psychologische Erkenntnisse grundsätzlich abgelehnt werden. Erfahrungswissenschaften haben ihren Platz, müssen aber aus der Perspektive der Heiligen Schrift analysiert und (neu) bewertet werden" (S. 116).
Die Ausführungen von Thomas Schirrmacher: ,Die drei Seiten der Seelsorge: Gebot, Weisheit und Herz" (S. 137-170), sind ethische Leitlinien einer bibli schen Seelsorge, die aus dem Wort Gottes ableitet wird, aber auch Erkenntnisse und Impuise aus der Psychologie aufnimmt. Schirrmacher entwirft eine Seelsor getheorie, in der säkulare Erkenntniskategorien (Vernunft, Sinneserfahrung und Subicktivität) mit dem dreifachen Auftrag biblischer Seelsorge (Gebot, Weisheit und Herz) verbunden werden. Wohltuend ist die ausgewogene Argumentation. die aus der üblichen Kontroverse - hier biblische Seelsorge, dort Psychologie herausführt, Der Schwerpunkt seiner Ausführungen liegt auf der Frage nach einer angemessenen biblischen Hermeneutik als Grundlage der Seelsorgelehre. Dabei gelingt es Schirrmacher, seine erkenntnistheoretischen Einsichten an praktischen Beispielen zu veranschaulichen - ein begrüßenswerter Ansatz, der zu weiteren Überlegungen darüber führen sollte, wie die Aussagen der Heiligen Schrift zu Vernunft. Tradition und Erfahrung als wichtige Ratgeber für die Seelsorge in Anspruch genommen werden können, ohne dabei psychologische Erkenntnisse auszuklammern. Bedauerlich ist, dass Schirrmacher bereits vorhandene Ansitze einer bibelorientierten Psychologie in der Seelsorgepraxis (BTS, BIT und IGNIS) nicht aufgrcift. Dicse Aufgabe wäre noch zu leisen.
Insgesamt liegt eine Aufsatzsammlung vor, die Impulse gibt, zum weiteren Forschen anregt, einc notwendige Herausforderung an die kirchliche Seelsorge ist, aber auch deutlich macht, dass es noch viel zu tun gibt, wenn in der Seelsor gelehre die Verbindung von Rechtfertigungslehre (extra nos) mit den normativen Aussagen des Gesetzes und der biblischen Weisheitsliteratur gelingen soll. Anre gungen dazu enthält der Band genügend.
Prof. Wilhelm Faix
Quelle: JET 18 (2004), S. 365-366