Schirrmacher, Dr. Thomas. Gottesdienst ist mehr. Plädoyer für eine liturgische Gottesdienstgestaltung. Mit einem Anhang: Gibt es eine christliche Kunst? Theologischs Lehr- und Studienmaterial, Band 2. Bonn: Verlag für Kultur und Wissenschaft, 1998. 132 Seiten.
Schirrmachers Buch nimmt mutig eine Richtung, die wenige in Europa zu gehen wagen. Es bezieht Stellung für etwas, das fast alle Evangelikale in Europa normalerweise für das Gegenteil halten von Gemeindewachstum, von sinnvollem Gottesdienst und vielleicht sogar vom Evangelium selbst - nämlich Liturgie.
Der Autor beginnt sein Buch mit seinem Leserbrief an den Herausgeber von Idea-Spektrum, in dem er auf die Debatte über freies Gebet im Gottesdienst einging:
„Beide Autoren antworten gemäß frei- und landeskirchlicher Schubladen, ohne die Heilige Schrift als einenden Faktor einzubeziehen. Ein Studium der Bibel zeigt nämlich, daß es dort ein reiches Erbe an liturgisch festgelgeten Texten und Gebeten gibt und zugleich dieses Erbe immer wieder neu und frei gestaltet wurde. Freies Gebet und feste Liturgie bilden kein Gegeneinander, sondern ergänzen sich gegenseitig. Deswegen sollten Freikirchler ihre Gottesdienste mit vielen, zum Teil Jahrhunderte bewährten liturgischen Elementen bereichern und Landeskirchler lernen, das allgemeine Priestertum der Gläubigen auch im Gebet zum Ausdruck zu bringen. Das führt zum Miteinander statt zum ‘Pro & Kontra’“ (S. 6).
Es existiert ein nachweislicher Bedarf an sorgfältig und biblisch begründetem Plädoyer für liturgischen Gottesdienst. In Europa wie auch in Nordamerika hat das Thema des liturgischen Gottesdienstes mehr mit traditionellen Gebräuchen und emotionalen Antworten zu tun als mit Diskussionen über eine biblische Sicht von Gottesdienst. Meist erscheint die Diskussion um „Liturgie“ als Debatte über „alte klassische Hymnen und modernen, unehrerbietigen Lärm“ oder „alte staubige Hymnen, die keiner singt, und lebendige, bewegende Musik“ - je nach eigener Sichtweise.
Die Absicht Schirrmachers ist nicht, etwa für Konfessionalismus oder eine spezifische Liturgie zu argumentieren. Im Gegenteil: „Ich glaube, daß viele Elemente dieses Buches in jede gottesdienstliche Tradition aufgenommen werden können und das Buch viele Anregungen für alle Christen enthält, gleich, ob sie einen wesentlich ‘freieren’ oder einen wesentlich ‘liturgischeren’ Gottesdienst gewohnt sind, als ich ihn in diesem Buch vorschlage“ (S.10).
Die Absicht Schirrmacher ist vielmehr, für eine tiefgreifende Einsicht von Anbetung und Gottesdienst von der Bibel her zu argumentieren. Er möchte aufzeigen, daß der Gottesdienst ein Teil unseres gesamten Dienstes für Gott ist - Gottes-Dienst eben.
Seine Hauptargumente sind im wesentlichen in zwei Abschnitte gegliedert. Der erste Abschnitt legt den Grund für unser Nachdenken über Liturgie. Dies schließt eine Erörterung des Begriffes „Liturgie“ selbst ein, die Funktionen der Liturgie, liturgische Elemente und Belege in beiden Testamenten, sowie eine Diskussion des „himmlischen Gottesdienstes“ im Buch der Offenbarung, und Liturgie als pädagogisches oder evangelistisches Mittel.
Der zweite Abschnitt stellt verschiedene Elemente eines Gottesdienstes vor: Das Vaterunser, Lieder, Gemeindegebet (sowohl vorformuliertes wie auch freies), den Gebrauch von Schriftstellen zur Lesung und zum Singen, Chorgesang, Musikinstrumente, Handauflegen als Segnung, Salbung mit Öl, die Predigt (natürlich!), die Kollekte, und das wöchentliche Abendmahl - um einige unter vielen anderen Themen zu nennen.
Ein dritter Abschnitt, ein Anhang mit dem Titel „Gibt es eine christliche Kunst? - Bibel, Kunst und chrisltiche Kultur“, trägt dem Umstand Rechnung, daß ein Teil jeglicher Diskussion über Liturgie auch eine Diskussion über Ästhetik einschließen wird.
Im Zentrum von Schirrmachers Diskussion und Beweisführung steht das jahrhundertealte „Dogma“ des lex orandi, lex credendi - `das Gesetz des Gebetes (oder des Gottesdienstes) ist das Gesetz des Glaubens`oder frei wiedergegeben: Was die Gemeinde im Gottesdienst betet und bekennt, ist das, was sie glaubt“ (vgl. seine Diskussion dazu S.31). Er beobachtet auch, daß das, „was im regelmäßigen Gottesdienst einer Gemeinde nicht vorkommt, (...) meist auch in Glauben und Theologie dieser Gemeinde keine wesentliche Rollle (spielt)“ (S.10).
Es ist die feste Überzeugung des Rezensenten, daß uns Schirrmachers Annäherung an das Thema des liturgischen Gottesdienstes dazu hinleitet, eine höhere Erwartung in Bezug auf unseren eigenen Gottesdienst zu haben und eine höhere Wertschätzung für den historischen Gottesdienst der Kirche.
Gleichzeitig erreicht seine
1. Vermeidung jeglicher Anklänge an „Verkaufsstrategie“ für eine bestimmte Liturgie,
2. schlüssige biblische Grundlage seiner Argumente und Beobachtungen, sowie
3. Beweisführung, daß alles, was Gott von uns im Gottesdienst möchte, er einsichtig durch biblische Prinzipien offenbart hat,
ein so weit wie möglich gefächertes Publikum, indem er sich nicht einfach nur an eine kleine Teilgruppe einer bestimmten Tradition innerhalb der Kirche Christi wendet.
Schirrmachers Buch ist nicht „akademisch“ in dem Sinn, daß es versuchte, jede nur mögliche Frage aufzugreifen, jegliche Tradition zu untersuchen oder jede nur mögliche Form der Liturgie vorzustellen. Es ist in einem allgemein verständlichen Stil geschrieben, mit kurzen Abschnitten, und ist mit biblischen Belegen angefüllt. Die ausführliche Liste verwendeter Literatur ist hilfreich, falls man tiefer in das Thema einsteigen will.
Für jene, die geneigt sind, Liturgie für römisch-katholisch zu halten, ist dieses Buch eine großartige Einführung - oder sollte man sagen, Wieder-Einführung - zu einer biblischen Sicht von Gottesdienst. Für jene, die bereits „liturgisch“ sind, ist dieses Buch eine großartige Erinnerung an das eigene biblische Erbe und eine ausgezeichnetes Geschenk für ihre nichtliturgischen Freunde.
Mark E. Rudolph