Klaus Unterburger in Theologische Revue 106 (2010) 305-308
Dies weiterführend will nun Thomas Schirrmacher in einer materialreichen und quellenintensiven religionswissenschaftlichen Arbeit gerade H.s gesamte Weltanschauung rekonstruieren und zeigen, wie diese in seiner Religion und seinem Gottesbild verankert und legitimiert war. S. geht dabei von einer Definition von Religion aus, die er von seinem Lehrer Karl Hoheisel übernimmt, nach dem es dabei um eine Beziehung zu transzendenten Werten oder Mächten gehe, die als letzte Wirklichkeiten für Denken und Handeln Orientierungspunkte sind (I, 53). Diese Definition halte die Mitte zwischen traditionell-inhaltlichen und modern-funktionalen Bestimmungsversuchen. Die Ergebnisse seiner minutiös belegten und mit einem ausführlichen und übersichtlichen Quellen- und Forschungsüberblick versehenen Studie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
H. habe einen harten, im Wesentlichen konstanten und einheitlichen Kern grundlegender weltanschaulicher Theoreme gehabt, die für ihn durch seinen Gottesbegriff legitimiert und integriert wurden. Definitionsgemäß handele es sich bei H. also um eine Religion, da er tatsächlich an diesen Gott glaubte und immer wieder auch im privaten Rahmen auf ihn zu sprechen kam. H. vertrat einen Monotheismus, nach dem Gott der Schöpfer aller Völker sei, zugleich aber ein Kriegsgott, ein Gott des Rechts des Stärkeren. H.s Gott helfe nur dem, der es verdient habe. Positive Werte waren für ihn solche des Kampfes und des Krieges, Unwerte dagegen Pazifismus, Nächstenliebe, Feigheit, Humanität u. ä. Er selbst verstand sich als spezielles Werkzeug dieses Gottes und seiner Vorsehung. Bei H. war also das politische Agieren durch eine explizit auch als religiös zu interpretierende Programmatik bestimmt. Trotz aller synkretistischen Übernahmen (H. habe immer die kämpferischste Variante einer Weltanschauung gewählt) sei H. in seiner Religion dabei durchaus originell, indem er ein monotheistisches Gottesbild mit einer sozialdarwinistisch-heilsgeschichtlichen Geschichtsdeutung, einem rassistischen Antisemitismus sowie mit seinem Theorem vom Kampf um Lebensraum verband.
Ausgeprägt sei in H.s Religion ein Szientismus, der sowohl völkische Religionen wie auch modifizierte Formen des Christentums – beide Strömungen wurden in der NSDAP ebenfalls vertreten – als wissenschaftlich veraltet ablehnt. Erkenntnisquelle seiner Religion war für H. allein die – wie er glaubte – wissenschaftliche Erkenntnis, keine übernatürliche Offenbarung. Das alte Christentum sei mit den Erkenntnissen seit der Aufklärung nicht mehr haltbar. Unter dem „positiven Christentum“ des Artikels 24 des Parteiprogramms der NSDAP sei jenes Christentum zu verstehen, das für H. ethisch gut, also dem deutschen nationalsozialistischen Empfinden gemäß und deshalb jedenfalls überkonfessionell sei. Auf der Systemebene wurde das originäre Christentum so abgelehnt, im besonderen Maße die christliche Ethik der Nächstenliebe, und doch konnten viele materielle Elemente übernommen und neu integriert werden. Der Nationalsozialismus war für H. weder Politik noch Kirche, sondern beiden übergeordnet, also weltanschaulich allzuständig. Langfristig sollten so Staat und Kirche in ihrer traditionellen Form überwunden werden; alles sollte dem einen gottgegebenen Zweck, der Förderung des Lebenskampfes des Volkes, dienen. So kannte H. auch keine persönliche Eschatologie, nur eine Art Weiterleben im Schicksal seiner Rasse.
Die materiellen Ergebnisse S.s sind gut belegt und im Allgemeinen schlüssig begründet. Man wird vielleicht mit der inneren Schlüssigkeit und Kompatibilität der einzelnen Elemente von H.s Weltanschauung, die er selber nicht Religion nennt, etwas vorsichtiger sein, da doch bspw. niemals völlig klar wird, inwiefern deutsche nationale Zielsetzung und das Ideal der reinen arischen Rasse (also nicht nur die Deutschen) für H. völlig identisch sein können. Schwerer muss eine andere Frage wiegen: Da der Naturverlauf konsequent sozialdarwinistisch und naturalistisch interpretiert wird, kommt dem Gottesbegriff H.s, auch wenn H. wohl selbst an einen allmächtigen Schöpfer glaubte, doch keine eigentliche Funktion zu. Faktisch ändert sich doch nichts, ob nun Gottes Vorsehung den schicksalhaften Naturlauf oder die immanente Gesetzmäßigkeit der Natur selbst H.s Handeln legitimiert. So war H. ja auch tolerant gegenüber anderen Gottesvorstellungen in seiner Umgebung, solange die totalitären naturalistischen Grundannahmen (Rassismus, Antisemitismus, Kampf um Lebensraum) des Nationalsozialismus nicht tangiert wurden. Eine darüber hinausgehende integrierend-legitimierende Funktion des Gottesbegriffs ist hier schwer erkennbar.
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Dennoch gilt: Da H. als Autorität nur die „wissenschaftliche Einsicht“ gelten lässt, ist seine Weltanschauung genauso naturalistisch begründet. Natürlich, das betont etwa Thomas Schirrmacher zu Recht, war H. kein Pantheist. Sein kriegerischer Gottesbegriff und sein naturalistisch-szientistisches und sozialdarwinistisches Wirklichkeitsverständnis laufen aber als Erklärungs- und Legitimationsinstanz letztlich auf dasselbe hinaus: Deus sive natura.